Vor 25 Jahren wurde in einem beschaulichen luxemburgischen Winzerdorf an den Ufern der Mosel, jenem völkerverbindenden Fluss, ein weiteres Kapitel der einmaligen europäischen Vereinigungsgeschichte verfasst. Durch eine Handvoll Unterschriften gelangte eine Ortschaft, die kaum mehr als 1.500 Einwohner zählt, zu Weltruhm. Schengen. Der mittlerweile globale Name eines Dorfes in einer Welt, die ihrerseits zum globalen Dorf mutiert ist. Schengen. Jener universale Begriff, der für Millionen von Menschen sprichwörtlich zum Sinnbild “grenzenloser Freiheit” geworden ist.
Ein Vierteljahrhundert nach der Unterzeichnung des Schengener Abkommens, ist die Abschaffung der stationären Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Europäischen Union (EU), längst zum Alltag geworden. So bewegen sich beispielsweise jeden Tag, innerhalb der Grossregion, zehntausende von Menschen hin und her, um sich im jeweiligen Nachbarland ihr tägliches Brot zu verdienen. Diese “Grenzgänger”, überschreiten dabei nurmehr theoretische Trennungslinien. Von den ehemaligen sichtbaren Demarkationszeichen, wie z.B. den Zollgebäuden, trotzen nur noch einige wenige dem Zahn der Zeit.
Für uns, die Vertreter der jungen Generationen, ist Europa seit jeher der Kontinent der inneren Bewegungsfreiheit. Wir wurden in jenen Raum ohne Grenzen hineingeboren und können uns an das Europa der Abschottung, der Schranken, nur noch sehr vage erinnern. Ohne Einschränkungen studieren, arbeiten und reisen zu können ist für uns längst zu einer unspektakulären Gewohnheit geworden. Und dennoch sind wir uns vollauf bewusst, dass dergleichen Freizügigkeit ein unschätzbares Privileg bedeutet. Umso mehr betrübt es uns, dass unter anderem jene einzigartige Errungenschaft durch die Begleitumstände der aktuellen weltweiten Krisenstimmung bedroht ist.
Unser alter Kontinent wurde von der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise der Nachkriegszeit mit voller Wucht getroffen. Latente Schwächen im europäischen Integrationsprozess wurden unterdessen zu Tage befördert. Vor allem das Fehlen einer gemeinsamen, koordinierten Wirtschaftspolitik, entfachte in Europa einen wahren Flächenbrand. So standen einige Mitgliedstaaten regelrecht vor dem Bankrott, die Gemeinschaftswährung setzte zu einer rasanten Talfahrt an und die Arbeitslosenzahlen sowie die öffentliche Verschuldung kletterten ringsum in schwindelerregende Höhen. Im Laufe der vergangenen Monate, kannten Europas Regierungen jede Mühe der Welt, ihr gemeinsam gezimmertes Schiff vor den Tiefen des Abgrundes zu bewahren. Im Unterschied zu den übrigen Wirtschaftsmächten des Globus offenbart sich Europa daher zur Stunde eher als taumelnder Zwerg anstelle eines angeschlagenen Riesen.
Angesichts dieses Zustandes ist zu befürchten, dass unser Anspruch eines geeinten, starken Europas, das in einer multipolar ausgerichteten Welt eine Pionier- und Vorbildfunktion einnehmen soll, in immer weitere Ferne rückt. Um dieses eherne Ziel dennoch zu erreichen, müsste die EU endgültig den Mut aufbringen, über das Stadium eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes hinauszuwachsen. Wenn die Union weiterhin geopolitischen Einfluss ausüben möchte, muss sie einen Paradigmenwechsel vollziehen und zu wahrer politischer Einheit finden.
Im Fackelschein der Krise besteht infolgedessen die wohl grösste Herausforderung der EU in der Abkehr vom nationalstaatlichen Denken. Die Interessen der Einzelnen müssen jenen der Gemeinschaft untergeordnet werden. Nur unter dieser Prämisse kann Europa sein vorhandenes Potential auf der globalen Bühne entfalten und sich gegen zukünftige Krisen wappnen. Der Vertrag von Lissabon kann deswegen auch bloss als Anfang dieses Prozesses betrachtet werden.
Jedem Einzelnen muss ins Bewusstsein gerückt werden, vor welch epochalen Herausforderungen unser Erdteil steht und Jedem muss klar gemacht werden, dass der Weg durch die Irrungen der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts nur gemeinsam mit Erfolg beschritten werden kann. Ein Scheitern dürfen wir uns nicht erlauben. Es würde mehr als das Ende eines Staatenbundes bedeuten.
Umso dringender erscheint es in unseren Augen, dass Europa nun in der Krise nicht in Lethargie verfällt, sondern resolut auf seinem skizzierten Weg voranschreitet. Dabei wären die europäischen Ädilen gut beraten, auf die “Generation von Schengen”, ergo die gegenwärtige Jugend, zu setzen. Nur derjenige, der das Potenzial der Heranwachsenden zu fördern und zu nutzen weiss, wird auch künftig einen Platz in der ersten Reihe der internationalen Führungsriege beanspruchen können. Und da die Zukunft bekanntlich der Jugend gehört, erwarten Europas junge Leute zu Recht, dass die Politik nun mehr zu handfesten Taten übergeht, anstatt sich exklusiv in der Kunst der Schönrederei zu üben.
Es gilt demnach nicht gänzlich die Zeichen der Zeit zu benennen, sondern korrekte Entscheidungen folgen zu lassen. So müsste die EU, um sich eine Perspektive im Weltgeschehen zu erhalten, prioritär in aussichtsreiche Segmente wie Bildung und Forschung investieren. Erweist sich Europa nämlich als unfähig seine Jugend auf dem höchstmöglichen Niveau auszubilden, riskiert es langfristig unter dem Joch der Massenarbeitslosigkeit zu leiden. Beschränkt Europa seine jährlichen Pro-Kopfausgaben für Hochschulstudenten weiterhin auf 8.300 Euro anstatt 21.000 Euro wie die Vereinigten Staaten von Amerika, droht unser Kontinent gegenüber dem Rest der post-industriellen Welt, aussichtslos ins Hintertreffen zu geraten.
Finanzielle Anstrengungen stellen für uns dennoch nur die halbe Miete dar. So mutet es derweilen gerade zu paradox an, dass in einem Länderverband ohne Binnengrenzen, nur 5% der Studierenden ein Auslandsstudium ablegen. Um die Mobilität der künftigen europäischen Akademiker zu erhöhen, reichen Förderprogramme wie Erasmus offenkundig nicht mehr aus. Eine Alternative zu der bisherigen Handlungsweise könnte, neben der Begünstigung einer hervorragenden Hochschullandschaft, die Schaffung eines “Europa-Universität”-Labels sein, das jeder Lehranstalt, die auf Mehrsprachigkeit, kulturelle Vielfältigkeit und Austauschprogramme setzt, als europäisches Prädikat verliehen würde. Der Dominoeffekt, welcher ein derartiges Gütesiegel hervorrufen könnte, würde mittelfristig dazuführen, dass sich alle Universitäten eine echte europäische Ausrichtung aneignen würden.
Damit Europa freilich zu verheissungsvollen Ufern aufbrechen kann, muss demnach dafür Sorge getragen werden, dass eine neue Generation an überzeugten Europäern heranwächst. Sich dieser Herausforderung zu stellen, fühlen auch wir, die jung und politisch engagiert sind, uns verpflichtet. Folglich, werden die “Jeunes Populaires” aus Lothringen und die Christlich-Soziale Jugend aus Luxemburg den 25. Jahrestag der Schengener Abkommen zum Anlass nutzen, um im Geiste jener historischen Entscheidung, ein grenzüberschreitendes, politisches Bildungsangebot für unsere Mitglieder sowie alle politisch interessierten Jugendlichen aus der Grossregion, ins Leben zu rufen. Unsere Absicht ist es, die potentiellen Entscheidungsträger von Morgen an Europas Geschichte, seine Institutionen und seine Aufgabenstellungen heranzuführen.
Der Werdegang der EU ist von unzähligen Flauten geprägt. Gleichzeitig lehrt die Vergangenheit uns, dass eine Krise immer auch ein Wendepunkt ist, der die Gelegenheit bietet, sich auf das Wesentliche zu besinnen um den Blick anschliessend wieder unbeirrt nach vorne zu richten. Getrieben von der standhaften Überzeugung, dass die augenblicklich tobende Depression den europäischen Einigungsvorgang noch nicht an seine Grenzen gestossen hat, wollen wir unseren bescheidenen Beitrag zum Gelingen des Gemeinschaftsprojektes leisten.
Der europäische Traum ist noch längst nicht ausgeträumt. Wir möchten weiter an einem freien, geeinten, ehrgeizigen und dynamischen Europa arbeiten. Schliesslich handelt es sich dabei um das Schicksal einer ganzen Generation. Jener von Schengen. Der Schengen-Generation eben.
Serge WILMES (CSJ)
Etienne MANGEOT (Jeunes Populaires)