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Juncker 2004

“Ich kann nur davor warnen, dass einige sich darauf versteifen, die Verhandlungsführung sich so entwickeln zu lassen, dass wir zwangsläufig auf das Konzept Kerneuropa zulaufen.

Mein Kerneuropa ist ein Kerneuropa der 25. Ich hätte es gerne, dass sich alle in einer Richtung auf den Weg machen.

Sollte sich im weiteren Verlauf der Verhandlungen herausstellen, dass es zwei Gruppen von Staaten gibt – eine, die mehr Europa will, und eine, die weniger Europa will -, dann sind wir logischerweise im Kerneuropa angelangt. Das wäre eine unvermeidbare Konsequenz, aber kein zu erstrebendes Ziel. “

De Premier Juncker am Interview mam Rheinischer Merkur dës Woch:
www.merkur.de(Nr. 07, 12.02.2004)

(VER-)FASSUNGSLOSES EUROPA
“Mein Kerneuropa – das sind 25 Staaten”

Die Uhr tickt. Am 1. Mai treten der EU zehn neue Mitglieder bei, fast achtzig Millionen Bürger. Ankara klopft auch schon heftig an die Tür. Doch dahinter sind alle mit sich selbst beschäftigt: Streit über die Hausordnung, den Haushalt und die Nachbarn. Der RM traf Jean-Claude Juncker – ist er der Mann, der Europa aus der Krise hilft?

RHEINISCHER MERKUR: Die Union erweitert, der Verfassungsgipfel gescheitert. Ist Europa unregierbar geworden?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Europa ist nicht unregierbar, denn wir haben ja den Vertrag von Nizza. Der ist zugegebenermaßen keine hohe Form der Staatskunst gewesen. Es wäre gut, wenn wir die Verfassung schon hätten, dann wäre vieles einfacher, transparenter, effizienter, zeitgemäßer, aber wir müssen jetzt mit dem Vertrag von Nizza leben. Und wir werden damit leben.

Sie rechnen nicht damit, dass sich die Mitglieder bis Mai noch auf eine Verfassung einigen?

Ich bin relativ skeptisch, ob es uns gelingt, bis dahin diesen Verfassungsvertrag zu verabschieden. Selbst dann hätten wir sie doch nicht zum 1. Mai, denn sie müsste von den 25 Nationalstaaten ratifiziert werden. Wenn das Vorhaben scheitert, dann jedenfalls nicht an der Ungeschicklichkeit der Iren, die sich sehr klug verhalten.

Und dann?

Wenn es unter dem irischen Vorsitz nicht gelingt, dann werden wir das unter dem niederländischen Vorsitz im zweiten Halbjahr 2004 versuchen. Oder erst unter luxemburgischem Vorsitz, erstes Semester 2005.

Woher soll Verhandlungsdynamik kommen?

Diejenigen in Europa, die gerne eine Verfassung hätten – ich rede von den Zivilgesellschaften -, müssen die Politiker beim Wort nehmen. Alle Regierungschefs haben zu Hause erklärt, sie hätten gerne eine Verfassung. Die Dynamik bleibt dann erhalten, wenn die Politiker pausenlos an ihr Versprechen erinnert werden.

Es gab aber zwei Länder, die ihren Bevölkerungen versprochen haben, dass sie die Regelungen von Nizza vorziehen.

Nizza war keine Verfassung, sondern ein Vertrag, während die Verfassungsgebung ein qualitativ völlig verschiedener Vorgang ist. Die zwei Länder, die Sie meinen, Polen und Spanien, haben ja nicht erklärt, sie seien gegen eine europäische Verfassung, sondern nur, dass es in puncto Stimmengewichtung im Rat bei den Festlegungen von Nizza bleiben sollte. Ich bin anderer Ansicht.

Was ist Ihr Kompromissvorschlag?

Ich bin an Kompromissen nicht so sehr interessiert, sondern an Lösungen. Kompromisse als solche erfüllen keinen Zweck. Viele Beobachter sind sich überhaupt nicht bewusst, dass es ja nicht nur einen Dissens gibt in der Frage der Stimmenneugewichtung, sondern vierzig, fünfzig Punkte, in denen die Mitgliedsstaaten nicht gleicher Auffassung sind. Da läuft die Demarkationslinie nicht zwischen Alt und Neu, zwischen 15 und 25, sondern querfeldein durch die Reihen der jetzigen 15.

Was meinen Sie genau?

Wir haben den Dissens bei der Stimmengewichtung. Wir haben keine Einigung in Sachen Zusammensetzung der Kommission. Wir haben noch nicht annähernd eine Einigung darüber, in welchen Fällen der Politik künftig mit Mehrheit abgestimmt wird und in welchen Fällen der Politik wir uns weiterhin mit der Einstimmigkeitsregel herumplagen müssen. Wir haben keine Einigung über die justizielle Zusammenarbeit und darüber, ob Finanzperspektiven mit Mehrheit beschlossen werden sollen. Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen über den Abstimmungsmodus in den Bereichen Steuern und soziale Sicherheit. Die Gesamtlösung kann man erst dann vor seinem geistigen Auge sehen, wenn sich in all diesen Punkten die Standpunkte einander nähern.

Sonst läuft die Entwicklung auf ein Kerneuropa hinaus?

Ich kann nur davor warnen, dass einige sich darauf versteifen, die Verhandlungsführung sich so entwickeln zu lassen, dass wir zwangsläufig auf das Konzept Kerneuropa zulaufen. Mein Kerneuropa ist ein Kerneuropa der 25. Ich hätte es gerne, dass sich alle in einer Richtung auf den Weg machen. Sollte sich im weiteren Verlauf der Verhandlungen herausstellen, dass es zwei Gruppen von Staaten gibt – eine, die mehr Europa will, und eine, die weniger Europa will -, dann sind wir logischerweise im Kerneuropa angelangt. Das wäre eine unvermeidbare Konsequenz, aber kein zu erstrebendes Ziel.

Bei wem beobachten Sie die Neigung, die Verhandlungen auf Kerneuropa hin anzulegen?

Ich beachte sie als Fluidum, das manchmal so über Brüsseler Flure geistert und das sich nicht an einer bestimmten nationalen Flagge festmacht.

Haben Sie nicht mit dem Vierertreffen zur Verteidigungspolitik im vergangenen Jahr selbst die Weichen für Kerneuropa gestellt?

Wir haben beim letzten Dezembergipfel gemeinsam festgelegt, wie wir in Sachen Verteidigungspolitik weiter voranschreiten. Wenn wir eine feste politische Vorstellung haben und den notwendigen politischen Willen, dann können wir auch ohne Verfassung, ohne Vertrag, das Notwendige tun. Zu diesem Ergebnis wären wir nicht gekommen, wenn es diese Sitzung der vier am 29. April 2003 nicht gegeben hätte, die die Verteidigungsdebatte wieder angeschoben hat.

Wann wird es eine Verteidigungsunion geben?

Ich bin absolut davon überzeugt, dass wir in zwei Jahrzehnten eine in sich geschlossene europäische Außenpolitik haben werden mit einer in sich geschlossenen europäischen Verteidigungspolitik. Zurzeit gibt es Staaten, die von sich selbst behaupten, sie wären neutral. Sie gehören keinem Bündnis an, sondern stehen außerhalb jeder Bündnispflicht. Meine Vorstellung von Europa ist, dass wir den europäischen Verteidigungspfeiler in der Nato stärken. Das wird aber nicht von heute auf morgen zu leisten sein, weil Österreicher, Iren, Finnen und andere aufgrund ihrer historischen Erfahrung eben den Weg der Bündnisfreiheit gewählt haben.

Ist Europa nicht viel zu disparat, um jemals zur Einheit zu gelangen?

Wenn sich jetzt herausstellen sollte, dass einige das vorgelegte Tempo so nicht akzeptieren können, dann muss die Kerngruppe oder wie immer wir sie auch nennen die Avantgarde ihr Tempo beibehalten dürfen, und die anderen, die etwas Langsameren, dürfen aufschließen. Aber Zielsetzung muss sein, dass niemandem das Einlaufen in den Zielhafen verweigert wird.

Was ist Ihre Idee von Europa, ein Europäischer Bundesstaat? Oder muss es ein Staatenbund bleiben?

Die Europäische Union wird nie so etwas werden wie die Vereinigten Staaten von Europa nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika. Nationen sind keine provisorische Erfindung der Geschichte, sondern sind auf Dauer eingerichtet. Europa muss jeden Tag enger zusammenwachsen. Das Netz grenzüberschreitender Solidarität muss immer enger werden, aber wir können uns nicht in einem europäischen Schmelztiegel auflösen.

Nationalstaaten sind eine Erfindung des 19. Jahrhunderts . . .

Ja, aber wir sind erst im 21. Jahrhundert. Und ich weigere mich, obwohl ich an Langzeitprojekten sehr interessiert bin, jetzt Träumereien über das 23. Jahrhundert vorzunehmen. Die Vereinigten Staaten von Europa kann es nicht geben, weil die Menschen es nicht wollen.

Das Netz der Solidarität muss sich nun konkret bei der Finanzplanung bewähren. Was halten Sie von den Vorstellungen der Kommission?

Der Kommissionsvorschlag ist eine gute Verhandlungsgrundlage. Bevor man ihn in Gänze ablehnt, muss man ihn in Gänze studieren.

Den Brief der sechs Nettozahler, die die Ausgaben der Kommission auf heutigem Niveau bis 2013 einfrieren wollen, haben Sie nicht unterzeichnet. Warum?

Erstens mag ich diese Kategorisierung der Mitgliedsstaaten in Nettozahler und Empfänger nicht. Wer jetzt die Solidarstränge kappt, und das noch genau in dem Moment, da sich die Europäische Union nach Osteuropa und in den Mittelmeerraum hinein erweitert, der bricht mit einer der Hauptfunktionen der EU. Zweitens habe ich größte Bedenken, ob es auf Dauer möglich sein wird, die europäische Ambition auf einem Level unterhalb der Einprozentgrenze des EU-Bruttosozialproduktes finanzieren zu können. Drittens, wir lernen einfach nichts dazu. Bevor eine Verhandlung beginnt, legen einige Staaten schon fest, was herauskommen darf. So kommen wir nie zurande. Viertens, die Frage der Finanzperspektive wird 2005 unter luxemburgischem Vorsitz zu entscheiden sein. Man kann nicht Kompromisse schmieden, wenn man einer Gruppe deutlich zuzuordnen ist.

Sie reden wie ein geborener Kommissionspräsident.

Wenn alle so handeln würden, wie ich manchmal rede, dann stünde es mit der Europäischen Union besser.

Benötigt die Europäische Union ein eigenes Steuererhebungsrecht?

Eine EU-Steuer ist aus zwei Gründen wünschenswert. Erstens wäre es gut, wenn jeder Steuerzahler in der Europäischen Union wüsste, wie viel er aufbringen muss, um die Europäische Union zu finanzieren. Dann würde sich nämlich ganz schnell herausstellen, dass die Europäische Union keine überhöhten Kosten für den einzelnen Bürger hat, und viele demagogische Debatten darüber, dass die Europäische Union irrsinnig viel Geld kostet, würden sehr schnell beendet sein. Zweitens wäre es auch gut für die Haushaltsstabilität in der Europäischen Union. Natürlich dürfte die nationale Steuerbelastung durch die Einführung einer EU-Steuer nicht auf einer nach oben offenen Skala bis zum siebten Himmel erweitert werden können.

Ein anderes Thema: der Beitritt der Türkei. 1997 haben Sie verhindert, dass Ankara Beitrittskandidat wird. Und nun?

Ich habe meine Meinung geändert, weil sich die Türkei verändert hat. 1997 war die Bereitschaft, Reformschritte im europäischen Sinne des Wortes einzuleiten, überhaupt nicht vorhanden. Da wurde es als Zumutung empfunden, wenn man die türkischen Vertreter auf die Lösung des Zypern-Problems hin anging. Wenn man auf das Thema Menschenrechte kam, wurde man fast des Tisches verwiesen. In den letzten drei Jahren hat die Türkei hingegen erhebliche Fortschritte in der Menschenrechtsfrage zu verzeichnen. Wenn wir im Dezember zu dem Schluss kommen, die Türkei hat in genügendem Maße geliefert, muss man ihr auch ein Datum zu Beitrittsverhandlungen anbieten. Das ist die Beschlusslage, und von der können wir uns nicht entfernen.

Würde Europa ein so großes islamisches Land verkraften?

Meine Erfahrung ist, dass es in der Türkei einen unwahrscheinlichen Drang nach Europa gibt. Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch aus Gründen des Sichwohlfühlens auf dem europäischen Kontinent. Man muss sich auch mit der geostrategischen Frage beschäftigen, ob es besser oder schlechter für die Europäische Union wäre, wenn sie ein benachbartes Land zu ihren Mitgliedern zählte. Und nach vielem Nachdenken über diese Frage habe ich wirklich den Eindruck, dass es dem Zusammenwachsen Europas in dem geforderten Miteinander von christlich-abendländischer Kultur und islamisch geprägter Kultur förderlich wäre, wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird.

Also sind Sie für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen.

Ja, aber alle Verhandlungen sind ergebnisoffen. Die Tatsache, dass man mit Verhandlungen anfängt, bedeutet nicht, dass man die Verhandlungen erfolgreich abschließen kann, und das muss jeder wissen. Wenn wir nach acht oder neun Jahren feststellen, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei aus vielerlei Gründen nicht möglich ist, dann müssen wir trotzdem zur Türkei ein besonders intimes Verhältnis finden.

Die Entscheidung zur Türkei wird der letzte Akt der amtierenden Kommission sein. Viele wünschen sich, dass Sie die nächste Kommission führen.

Ich habe am 13. Juni nationale Parlamentswahlen. Ich kandidiere zu diesen Wahlen und möchte Premierminister bleiben. Wenn meine Partei die Wahl gewinnt, dann gilt, was ich den Luxemburger Bürgern erklärt habe, nämlich, dass ich Premierminister bleibe.

Ist es ein größerer Reiz, Luxemburg zu regieren als 450 Millionen Europäer?

Nein, das hat etwas damit zu tun, dass man sich an das gegebene Wort halten muss.

Das Gespräch führten Michael Rutz und Thomas Gutschker.