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« Die Europäische Union ist eine absolute Notwendigkeit. Die Zukunft Europas liegt in der Annäherung aller europäischen Völker und in der Überbrückung nationaler Gegensätze »

CSJ-Grundsatzprogramm « Bausteng fir d’Zukunft »

Die CSJ freut sich über die Erweiterung der Europäischen Union an diesem 1. Mai 2004.

ZEHN VORURTEILE – ZEHN URTEILE DER RM-REDAKTION
Mehr Licht als Schatten

Von Europa-Euphorie keine Spur: Je näher die Erweiterung rückt, desto größer die Furcht davor. Weniger Arbeitsplätze, mehr Kriminalität, die Union blockiert? Ein schwacher Euro, Wanderungswellen aus dem Osten, das Ende des Christentums? So real diese Sorgen sind – einer gründlichen Prüfung hält keine einzige stand.

Unsere Arbeitsplätze werden jetzt in Billiglohnländer verlegt

1 Richtig ist: Deutschland kann mit seinem hohen Lohnniveau weder Osteuropa und erst recht nicht China von der Kostenseite her ausstechen. Allerdings ist die Ursache für die Abwanderung deutscher Firmen und damit für den Abbau von Arbeitsplätzen nicht die EU-Osterweiterung, sondern die Globalisierung im Allgemeinen. Nach dem Fall der Mauer flossen bereits in den neunziger Jahren Milliarden von Auslandsinvestitionen in die Transformationsländer. Die wirtschaftliche Verflechtung der neuen EU-Mitglieder ist deshalb fast so eng wie die Handelsbeziehungen zwischen den alten Mitgliedern: 60,4 Prozent der Ausfuhren der zehn Beitrittsländer gingen 2002 in die alte EU; von dort importierten sie 57,5 Prozent ihrer Einfuhren.

Deutsche Autokonzerne wie VW und Audi, die im Osten produzieren, argumentieren, dass sie Teile der Wertschöpfung ins kostengünstige Ausland verlegen, um besser bezahlte Arbeitsplätze hierzulande weiterhin finanzieren zu können. Nach Einschätzung von Experten ist der Höhepunkt der Verlagerung von Produktionsstätten bereits überschritten. Lohnintensive Branchen wie die Bekleidungsindustrie werden sich künftig weiter gen Osten – in die Ukraine oder nach Rumänien – verschieben. Langfristig gehen für die Neumitglieder die komparativen Kostenvorteile zurück, da sie durch den EU-Beitritt europäische Standards übernehmen müssen.

Millionen aus den Beitrittsländern suchen bei uns Arbeit

2 Die Anziehungskraft ist in der Tat groß: Während in Deutschland die Arbeitskosten im Durchschnitt bei 26 Euro pro Stunde liegen, beträgt das Salär im Nachbarland Polen 4,50 Euro, in Ungarn 3,80 Euro und in Lettland gerade einmal 2,40 Euro. In Slowenien hingegen liegt der Satz bei 9 Euro. Auch innerhalb der alten EU ist das Lohngefälle beachtlich. In Portugal, das 1986 beitrat, liegt der Durchschnittslohn bei 8,13 Euro die Stunde und in Griechenland, sei 1981 Mitglied, bei zehn Euro. Schon jetzt ist also ersichtlich, dass auch nach der siebenjährigen Übergangsfrist, in der die alten Mitglieder ihre Arbeitsmärkte abschotten dürfen, das Lohngefälle weiter bestehen wird.

Trotzdem wird es nicht zu massiven Wanderungsbewegungen kommen, wie die Erfahrung mit Portugal zeigt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) rechnet in den nächsten 25 Jahren für Deutschland und Österreich mit einer Nettozuwanderung von 1,4 bis 2,2 Millionen Menschen. Bei einer Hochrechnung auf die alte EU ergibt sich ein langfristiges Migrationspotenzial von 3,8 Millionen Arbeitskräften aus dem Osten. Für Deutschland und Österreich würde sich dadurch das Bruttoinlandsprodukt um 0,25 Prozent bis 0,33 Prozent erhöhen, was einer Summe von 62 bis 83 Milliarden Euro entspricht. Von diesem Einkommensanstieg profitieren in erster Linie die Einwanderer aus dem Osten selbst. In den Gastgeberländern führt die Migration zu sinkenden Löhnen für Geringqualifizierte.

Die neue Ostgrenze ist nicht sicher

3 Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind die Grenzen in Osteuropa so durchlässig wie nie zuvor. Das hat den Austausch zwischen den früheren Satelliten der Sowjetunion erheblich befördert, aber es bot auch Schleuserbanden und Schwarzhändlern Einfallstore nach Europa. Mit dem Beitritt zur EU müssen die neuen Mitglieder das Schengener Abkommen übernehmen. Damit werden sie selbst für die Sicherung der EU-Außengrenze zuständig. Um die Brüsseler Vorschriften zu erfüllen, müssen sie für Einreisende aus Drittstaaten die Visumpflicht einführen, ihr Grenzpersonal schulen und neu ausrüsten (etwa mit Nachtsichtgeräten) sowie die Grenzbefestigungen verbessern. Außerdem müssen sie in Grenznähe Abschiebegefängnisse für Personen errichten, die illegal in die EU einreisen.

Dadurch wird die bisherige Freizügigkeit an der Ostgrenze erheblich eingeschränkt, was etwa das Verhältnis zu Russland belastet. Schon seit vergangenem Sommer müssen Russen, die über Litauen oder Polen in die Exklave Kaliningrad einreisen, ein Visum besitzen. Hingegen können Bürger der neuen Mitgliedsländer künftig ohne Visum in der gesamten EU reisen.

Trotzdem werden die Personenkontrollen an den internen Grenzen zur alten EU zunächst fortbestehen. Erst wenn ein Land nachweisen kann, dass seine Außengrenze die EU-Standards erfüllt, werden die Kontrollen der Binnengrenzen eingestellt. Dazu ist eine Empfehlung der Kommission und ein einstimmiges Votum aller EU-Staaten erforderlich. Erweiterungskommissar Verheugen schätzt, dass dies frühestens zum Ende dieses Jahrzehnts der Fall sein wird. Somit liegt es weiterhin in der Hand der alten Mitglieder, Grenzkriminalität einzudämmen.

Die Neuen erfüllen nicht unsere Standards für Lebensmittel

4 Kaum ein Bereich bereitet den Beitrittskandidaten mehr Sorgen als die Lebensmittelsicherheit. Selbst im jüngsten Fortschrittsbericht wies die Brüsseler Kommission noch auf den erheblichen Nachholbedarf fast aller neuen EU-Mitglieder hin. Fest steht: Vom 1. Mai an gilt auch dort der “Acquis communautaire”, das umfassende EU-Regelwerk der Union. Alle 25 Staaten müssen dann die gleichen Standards für Lebensmittelhygiene, Tiergesundheit und Pflanzenschutz erfüllen. Die hierfür erforderlichen Kontrollinstitutionen, etwa moderne Labors, sind teuer; ihr Aufbau ist zudem sehr lang dauernd, sodass sich die Kommission gezwungen sah, sechs Beitrittsländern Übergangsfristen bis 2007 einzuräumen.

Für Agrarproduzenten in den neuen Mitgliedsstaaten gilt dennoch von sofort an: Wollen sie ihre Produkte in anderen EU-Ländern verkaufen, müssen ihre Höfe entsprechend zertifiziert sein. Ohne das entsprechende Zertifikat dürfen landwirtschaftliche Erzeugnisse nicht die nationalen Grenzen überqueren. Der “freie Warenverkehr”, eine der Säulen des EU-Binnenmarktes, bleibt in diesem Punkt eingeschränkt, Exporte innerhalb der EU werden an den Grenzen überprüft.

Die wirtschaftliche Angleichung kostet ein Vermögen

5 Nein! Sie wird in absehbarer Zeit erst gar nicht gelingen. Zumindest nicht mit den bescheidenen Fördermitteln, die die etablierten EU-Mitglieder bereitstellen wollen. Insgesamt zwölf Milliarden Euro werden zunächst in einer Übergangsphase bis Ende 2006, wenn der aktuelle Finanzplan ausläuft, in die Beitrittsstaaten transferiert. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum erhält der deutsche Steinkohlebergbau 8,3 Milliarden Euro Subventionen. Die 75 Millionen neuen EU-Bürger werden ihr Einkommen nicht spürbar anheben können. Auf die Bevölkerung umgerechnet erhält jeder Bewohner in den Beitrittsstaaten 160 Euro bis 2006.

Wie die Förderung nach 2006 ausfällt, ist noch ungewiss. Derzeit wehren sich die Nettozahler der EU, allen voran Deutschland, gegen eine Erhöhung des Gemeinschaftshaushaltes. Aber selbst, wenn sich Hans Eichel durchsetzt, werden wir künftig einen höheren Nettobeitrag leisten müssen, da Fördergelder aus Ostdeutschland abgezogen und nach Osteuropa umgeleitet werden. Dass der Osten überhaupt aufholt, liegt nach Meinung vieler Experten ohnehin nicht an der EU-Förderung, sondern an den niedrigen Steuersätzen, die ausländische Investitionen anlocken.

Wir subventionieren niedrige Steuern in den Beitrittsländern

6 Die große Koalition der Halbwissenden hat wieder zugeschlagen. Gerhard Schröder, unser Bundeskanzler, und sein einstiger Herausforderer Edmund Stoiber sind sich einig, dass man mit Steuersätzen von 19 Prozent, wie sie in der Slowakei erhoben werden, keinen Staat finanzieren kann. Also müssten wir reichen, aber mit demoralisierend hohen Steuersätzen konfrontierten Deutschen den Mäzen für die Beitrittsstaaten geben. Klingt überzeugend. Ist es auch. Zumindest, wenn man es ganz genau nimmt. Der deutsche Steuerzahler überweist bis 2006 Jahr für Jahr fast eine Milliarde Euro an die neuen Partner.

Eine Milliarde Euro, das sind gut 0,2 Prozent des gesamten deutschen Steueraufkommens von fast 450 Milliarden Euro. Immerhin. Weil aber Schröders und Stoibers Kausalketten-Suggestion rein populistischer Natur ist, eignet sich die Steuerlast der mutmaßlich erzürnten Zielgruppe natürlich besser als Grundlage: Eine Milliarde Euro entspricht 1,7 Prozent der gesamten Lohn- und Einkommensteuer in Deutschland. Grund genug, den Osten des Steuerdumpings zu bezichtigen?

Der Euro wird an Wert verlieren

7 Warum eigentlich nicht? Seit Monaten klagen deutsche Exporteure über den angeblich zu hohen Kurs der Gemeinschaftswährung. Aber im Ernst, natürlich sind die Märkte an einer möglichst stabilen Entwicklung des Wechselkurses interessiert. Und von der Osterweiterung werden vorerst weder positive noch negative Impulse ausgehen. Es stimmt zwar, dass die neuen Unionsmitglieder laut EU-Vertrag irgendwann auch der Währungsunion beitreten müssen. Aber der Zeitpunkt ist noch offen.

Zunächst müssen die Euro-Aspiranten beweisen, dass sie sich mit den Maastricht-Kriterien zu arrangieren wissen. Das heißt, sie müssen sich in puncto Inflationsbekämpfung, Zinspolitik und Haushaltsführung an den Musterländern der Eurozone orientieren. Gelingt den Anwärtern dies über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren, steht ihnen die Tür zur Währungsunion offen.

Das Problem: Sämtliche neuen EU-Mitglieder sind wirtschaftlich deutlich schlechter entwickelt als die heutige Gemeinschaft der 15. Die EU unternimmt daher gewaltige Anstrengungen, um einen Aufholprozess einzuleiten. Der zieht erfahrungsgemäß höhere Inflationsraten nach sich. Um wirtschaftliche Stärke zu erlangen, müssten die Beitrittsländer also vorerst gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen. Die etwas entmutigende Konsequenz: Entweder die Beitrittsländer entscheiden sich für eine brummende Konjunktur oder für den Euro. Ein denkbarer, nicht wünschenswerter, aber nach den jüngsten Eskapaden deutscher und französischer Finanzpolitiker leider realistischer Ausweg: Der Maastricht-Katalog wird ausgedünnt.

Deutschland büßt politisch an Gewicht ein

8 Je größer die Union, desto geringer der Einfluss eines einzelnen Landes. Die nackten Zahlen scheinen diese Regel zu bestätigen. Deutschland verfügte in der alten EU über zwölf Prozent der Stimmen im Ministerrat und über 16 Prozent der Stimmen im Europäischen Parlament, mit der Erweiterung sinkt dieser Anteil auf neun Prozent im Rat und auf 13,5 Prozent im Parlament (nach dem Nizza-Vertrag).

Gleichwohl sagen diese Zahlen wenig über das tatsächliche Gewicht Deutschlands aus. In Wahrheit ist dieses mit allen früheren Erweiterungsrunden nicht gesunken, sondern gestiegen. Zum einen hat Deutschland als größter Nettozahler der EU bei allen Fragen der Mittelverteilung ein gehöriges Wort mitzureden – unabhängig von Stimmrechten. Zum anderen steigt in einer immer größeren Union der Bedarf nach Führung. Und da richten sich die Blicke automatisch zum größten Mitgliedsland, eine Stellung, die angesichts der vielen neuen Kleinstaaten eher noch gefestigt wird.

Bisher hat Deutschland zusammen mit Frankreich die Union informell geführt – ein “Motor”, der allseits anerkannt war, weil er die Interessen der anderen integrierte. Zuletzt schien sich der Zweierbund um Großbritannien zu erweitern, das allerdings nur partiell die Neuen wird vertreten können (etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik). Als weiteres Forum würde sich das Weimarer Dreieck mit Paris, Berlin und Warschau anbieten. Generell gilt für die deutsche Politik: Sie kann ihren Einfluss in Europa in dem Maße steigern, wie sie Deutschland als Brücke zwischen Ost und West etabliert.

Die Brüsseler Institutionen werden handlungsunfähig

9 Schon mit 15 Mitgliedern blockiert sich die Union auf zahlreichen Politikfeldern selbst. Ein Ratsvorsitzender verbringt die meiste Zeit auf Reisen, um seine Kollegen zu konsultieren und Gipfeltreffen vorzubereiten. Außenvertreter gibt es zwar gleich zwei – einen der Regierungen und einen der Kommission -, aber die haben nicht viel zu sagen. In einem Europa der 25 werden sich diese Tendenzen noch verschärfen.

Es sei denn, die Staats- und Regierungschefs verabschieden die EU-Verfassung. Dann nämlich wird es einen echten Außenminister geben, einen hauptamtlichen EU-Präsidenten und ein einfacheres, entscheidungsfreundlicheres Abstimmungsverfahren im Ministerrat. Außerdem entfiele der Einstimmigkeitszwang auf mehr als vierzig Feldern, eine Halbierung der gegenwärtigen Zahl. Gleichwohl bliebe er in einigen Kernbereichen staatlicher Souveränität erhalten: in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Steuerpolitik und in Teilen der Asyl- und Einwanderungspolitik. Die Konservativen in Großbritannien und die CSU in München möchten das nationale Veto noch auf weiteren Feldern festschreiben.

Sollte die gesamte EU in einer zentralen Frage handlungsunfähig werden, ermöglicht die EU-Verfassung die verstärkte Zusammenarbeit von mindestens einem Drittel der Mitglieder – sofern die anderen dies tolerieren. Andernfalls müssen sich die Handlungswilligen außerhalb der Verträge zusammenschließen, wie es beim Schengener Grenzregime und beim Euro der Fall war. Denkbar wäre das etwa beim Aufbau einer europäischen Staatsanwaltschaft mit Ermittlungskompetenzen, die von London und Rom strikt abgelehnt wird. Sollte die Verfassung nicht verabschiedet oder ratifiziert werden, ist die Bildung mehrerer solcher Pioniergruppen unausweichlich.

Die Europäische Union wird säkularer

10 Empirische Untersuchungen zeigen das Gegenteil, auch wenn die Verhältnisse in der Tschechischen Republik die Vermutung eines fortgeschrittenen Säkularismus eher bestätigen. Aber dieses Land ist die krasse Ausnahme unter den Beitrittsländern. Die Europäische Wertestudie, die 1990 in 25 Ländern durchgeführt wurde und 1999 bereits 31 Länder umfasste, darunter auch eine bedeutende Gruppe postkommunistischer Staaten, zeigt folgendes Bild: In Polen und in der Slowakei bezeichnen sich weit mehr als zwei Drittel der Menschen als religiös. In der bisherigen EU erreichen diese Werte nur annähernd Italien, Irland und Österreich. Und während in Großbritannien die Zahl religiöser Menschen in den neunziger Jahren um zwölf Prozent zurückging, stieg sie in der Slowakei um 13 Prozent.

Der empirische Befund lässt den Schluss zu, dass das kommunistische System an sich die religiöse Identität der Menschen nicht zerstören konnte. Im Gegenteil, wie sich an Polen zeigt, in dem die Kirche sogar zum politischen Widerpart wurde. In so gut wie allen anderen postkommunistischen Ländern, selbst in Russland, folgte nach dem Fall der Regime erstaunlich schnell ein Wiederaufblühen religiöser und kirchlicher Identität. Auch die tief greifenden, ja umwälzenden politischen und ökonomischen Veränderungen, die die Gesellschaft in diesen Ländern nach 1989 durchmachte, blieben praktisch ohne Einfluss auf das Niveau der Religiosität. Eine schleichende Entchristlichung der Gesellschaft und einen aggressiven Laizismus des Staates gibt es eher in den Stammländern der EU.

Urteile von Stefan Deges, Thomas Gutschker, Astrid Prange und Rudolf Zewell.

© Rheinischer Merkur Nr. 18, 29.04.2004